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Das Ende immer im Bewusstsein

Haiger, 16.05.2011.
Wie sähe unser Leben aus, wüssten wir von Anfang an den Zeitpunkt unseres Todes? Was hätte dies für eine Auswirkung auf unsere individuelle Lebensplanung? Die Theater-AG der Johann-Textor-Schule stellte sich diesen und anderen daraus resultierenden Fragen in der Inszenierung von Szenen aus Elias Canettis Schauspiel "Die Befristeten". Anhand eines fiktiven Gesellschaftsmodells von Morgen, in der alle Menschen den Augenblick ihres Todes kennen, wurde gleichzeitig die Welt von heute hinterfragt. Äußerst anspruchsvoll ist das gleichermaßen sozialkritische wie philosophische Stück des 1994 verstorbenen Literatur-Nobelpreisträgers.

Für die Theater-AG eine große Herausforderung, der sie an zwei Aufführungsabenden in der Aula der JTS eindrucksvoll gerecht wurden. Ganz auf ihr Spiel, ihre Interaktion, die meist in Zwiegesprächen stattfand, konzentriert, vermochten die Akteure unter der fachkundigen Leitung und Regie des Deutschlehrers Thorsten Tobor die Zuschauer in ihren Bann zu ziehen.

In einer zukünftigen Gesellschaft trägt jeder in einer Kapsel seinen Geburtstag bei sich, der in einem späteren Jahr auch sein Todestag sein wird. Der Name eines Menschen gibt an, wie alt er werden darf, aber es ist streng verboten, sein momentanes Alter zu nennen. Niemand außer den engsten Verwandten weiß, wie lange man noch zu leben hat. Aber jeder ist sich über den Zeitpunkt des eigenen Todes bewusst. Die Lebenserwartung bestimmt den Wert eines Menschen und teilt die Gesellschaft in Hohe und Niedrige. Ein Leben mit einer klaren Ordnung, die von der Kapselin überwacht wird.Die Kapselin (Jana Güline Klahold) warnt Fünfzig (Nina Löhl) davor, die Heiligkeit der Kapsel in Frage zu stellen.

Doch was, wenn man selbst das Leben zu sehr liebt, um es schließlich zum festgelegten Zeitpunkt zu beenden? Eine junge Frau namens Fünfzig beginnt, dieses System zu hinterfragen und macht eine revolutionäre Entdeckung: Die Ungewissheit über den eigenen Todeszeitpunkt ist ein wichtiger Bestandteil des Lebens und der Lebensqualität.

Die Inszenierung, die sich mit der Verantwortung der Menschen und ihrer Fähigkeit zum Mitgefühl im Spannungsfeld von Fatalismus, pseudoreligiöser Verblendung und Freiheit beschäftigte, regte zum Nachdenken an. Finden sich in dieser fiktiven Diktatur doch auch Ansätze unseres wirklichen Alltags, wie die Überwachung des öffentlichen Raums oder die systematische Datenerfassung aller Lebensbereiche des einzelnen Bürgers. Den jungen Darstellern und dem Regisseur Torsten Tobor gebührt Anerkennung, für die höchst lebendige Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen und philosophischen Betrachtungen über den Tod.

Nina Löhl als die Aufrührerin Fünfzig und Ann-Sophie Bartholomäus als die sich fatalistisch in ihr Schicksal ergebende Fünfundfünfzig zeigten beachtliche schauspielerische Qualitäten, die den textintensiven Szenen auf der nackten Bühne noch mehr Brisanz verliehen. Dennoch müssen sich dierestlichen Darstellerinnen und Darsteller - Saskia Weiß, Melissa Franz, Kim Bartsch, Luisa Fruk, Damaris Widerstein, Anna Schicker, Alisa Neef, Lukas Kaiser, Maurice Reza-Roth, Celine Berger, Jessika Badstuber und Jana-Celine Klahold als Kapselin - nicht hinter der Leistung der beiden Protagonistinnen des Schauspiels verstecken. Auch sie hatten ihren Anteil am Gelingen dieser Inszenierung.
(Mit freundlicher Genehmigung des Haigerer Kuriers; Text und Foto: Helmut Blecher.)

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