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Anna die Lügnerin

Die unmittelbare Nähe zu den Darstellern, die den Zuschauerraum mit in das Stück integrierten, ließ das Publikum die mit großer Intensität gespielten Gefühle von Beklemmung und Verzweiflung im jüdischen Getto geradezu hautnah miterleben. Schon bei der Begrüßung hatte der Lehrer des Kurses "Darstellendes Spiel", Thorsten Tobor, das Publikum auf das ernste Holocaust-Drama eingestimmt: "Unser Theaterstück behandelt ein schweres und schwieriges Thema. Es geht darum, etwas auszuhalten."

Dass die Darsteller schon im Vorfeld der Aufführung Ausdauer bewiesen hatten, zeigte ihre intensive Vorbereitungsarbeit: Das gesamte vergangene Schuljahr hatte Tobor gemeinsam mit 16 Schülern der neunten Klasse sowie einer Sechstklässlerin das Theaterstück "Anna die Lügnerin" verfasst und einstudiert. Als Inspiration diente den Jugendlichen der bekannte Roman "Jakob der Lügner" von Jurek Becker.

Die Autoren hatten die selbst geschriebenen Dialoge auffällig gut formuliert. Ihre natürliche und angemessene Sprache war auch mit ausschlaggebend für die ausgezeichnete darstellerische Leistung des Kurses. Auch dramaturgisch war das Stück gut aufgebaut und mit einer Gesamtlänge von 90 Minuten kompakt inszeniert. Verbunden wurden die schnelle Szenenfolge dabei von der jüdischen Klarinetten-, Streicher- und Klaviermusik des Ensembles "Colalaila classic", die aus den Bühnenlautsprechern erklang. "Ich habe noch nie so junge Darsteller eines Schülertheaters gesehen, denen es derart gut gelungen ist, sich so intensiv mit ihrer Rolle zu identifizieren", sagte eine begeisterte Zuschauerin nach der Premiere.
Tatsächlich zeigten fast alle Schüler ein schauspielerisches Können auf nahezu professionellem Niveau.

Hervor stachen dabei insbesondere die Hauptdarsteller Jasmin Jungholt als Anna Heym, Michelle Szentik in der Rolle der Erzählerin Lea sowie das kleine Waisenmädchen Lina, gespielt von der Sechstklässlerin Ann-Sophie Bartolomäus. Sowohl leise und zarte als auch schrille und tosende Töne hörten die Zuschauer während der Vorstellung. Dabei reichte die Bandbreite vom gefühlvollen Geigenspiel der Hauptdarstellerin bis hin zu den lauten erniedrigenden Befehlskommandos einer SS-Wachfrau (dargestellt von Ann Kristin Pulverich).

Im Mittelpunkt des Theaterstücks steht allerdings ein Apparat, der Sprache und Musik übermittelt - ein Radio. Schauplatz des Geschehens ist ein polnisches Juden-Getto zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Durch das zufällige Mithören einer Radio-Nachricht erfährt die im Getto lebende Jüdin Anna im Lager des Roten Kreuzes davon, dass sich die russische Armee in der Nähe der Stadt "Bezanika" und damit nur unweit ihres Gettos befindet. Mit dieser hoffnungsvollen Nachricht und der Notlüge, dass sie im Besitz eines verbotenen Radioempfängers sei, hält Anna ihren Freund Mischa (Janek Stiebing) davon ab, einen Diebstahl zu begehen und rettet damit sein Leben. Als sich die Nachricht von Annas Radio unter den Bewohnern des jüdischen Ghettos verbreitet, wird sie durch das große Elend dazu motiviert, immer weitere gute Neuigkeiten über die vermeintliche Befreiung und das Ende des Krieges zu erfinden.

Mit diesen "Lügen" gibt sie ihren Freunden im harten Alltag des Gettos neuen Lebensmut. Dieser Hoffnungsschimmer hilft das trostlose Leben, welches von harter körperlicher Arbeit, Hunger, Entbehrung und Furcht geprägt ist, ein wenig besser zu ertragen. Doch zu welchem Preis? Unter der Last dieser Verantwortung, gerät Anna zunehmend in einen Gewissenskonflikt. Ein weiterer Stein, der auf ihrem Herzen lastet, ist die Sorge um das kranke elternlose Mädchen Lina, die sich in ihrer Obhut befindet und vom besseren Leben in Freiheit träumt. Im Spiel des Ensembles ergaben sich viele gelungene Szenen zwischen stiller Spannung und großen Gefühlsausbrüchen. In gleicher Weise, in der das echte Radio der Familie Frankfurter in einer Szene durch den Schlag eines Knüppels in tausend Stücke zerspringt, so zerplatzen schließlich die Hoffnungen und Träume der jüdischen Getto-Bewohner: Sie werden von den Nazis deportiert und sterben im Konzentrationslager. Auch die Anna Heym verliert dort ihr Leben. Lediglich die Erzählerin Lea hat wie durch ein Wunder diese Zeit überlebt, um als letzte Zeugin nun die mutige Geschichte von "Anna der Lügnerin" weiter zu geben.

(Haigerer Kurier, 09.06.2009, Text und Foto: ssc/s).

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