StartArchivArchiv 2010"Mir war das freie Wort wichtiger"

"Mir war das freie Wort wichtiger"

Die Meinungsfreiheit gilt als Grundlage der Demokratie und ist heute für viele zur Selbstverständlichkeit geworden. Dass es in der deutschen Geschichte auch andere Zeitabschnitte gab, bezeugte Utz Rachowski, Bürgerrechtler und Autor, der am Montag an der Johann-Textor-Schule von seinen Erfahrungen mit dem DDR-Regime berichtete. Rund 90 Schüler der zehnten Realschulklassen nahmen an dem Werkstattgespräch teil. Am Dienstag war der Autor im Wilhelm-von-Oranien-Gymnasium in Dillenburg zu Gast.

Utz Rachowski, Bürgerrechtler und Autor."Ich war so alt wie ihr, als ich zum ersten Mal von der Stasi verhört wurde", erzählt Rachowski, der 1954 in Plauen (Vogtland) geboren wurde: "Dabei hatte ich nichts verbrochen, außer mit meinen Freunden Bücher verbotener Autoren wie Wolf Biermann zu lesen." Wegen der Gründung eines "Philosophie-Clubs", wie die Staatssicherheit (Stasi) es in ihren Akten bezeichnet, wird Rachowski von der Oberschule in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, verwiesen und gleichzeitig aus der Freien Deutschen Jugend (FDJ) ausgeschlossen.

"Irgendwie war ich erleichtert, diesem Wahnsinn entkommen zu sein", erinnert sich der 56-Jährige. "Der Unterricht war meist sehr, einseitig und die freidenkenden Lehrer wurden Stück für Stück gegen Leute mit militärischem Hintergrund ausgetauscht." Rachowskis Englischlehrer, der mit den Schülern aktuelle Liedtexte übersetzt und diskutiert, wird beispielsweise nach kurzer Zeit zum Militärdienst einberufen und kommt nie mehr zurück an die Schule. Viele der neuen Lehrer sind Stasi-Spitzel und nutzen ihre Position, um Informationen über Schüler zu sammeln, die "ideologische Verwirrung" stiften. "Ich habe mich später sehr dafür eingesetzt, dass Leute, die solch einen Vertrauensbruch gegenüber Schutzbefohlenen begangen haben, nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten dürfen", unterstreicht der Bürgerrechtler: "Aber in vielen Fällen ist das leider trotzdem passiert."

Nach seinem Rausschmiss bekommt Rachowski in seiner Heimatstadt Reichenbach keinen Ausbildungsplatz und jobbt sechs Monate als Bahnhofsarbeiter. Danach gelingt es ihm, anderenorts eine Lehrstelle als Elektromonteur zu ergattern und später sogar das Abitur nachzuholen. Doch als er von seinem in Leipzig begonnenen Medizinstudium in die Germanistik wechseln will, wird er exmatrikuliert. Er schlägt sich fortan als Handwerker und Heizer durch und hält nebenbei kleine Lesungen, in denen er eigene Gedichte sowie die Literatur verbotener Schriftsteller vorträgt.

Unter den Zuhörern ist auch ein getarnter Informant der Stasi, und Rachowski wird 1979 unter dem Vorwurf staatsfeindlicher Hetze verhaftet. "Mir war das freie Wort wichtiger, als nur genug zu Essen und ein Dach über dem Kopf zu haben", reflektiert der Autor zahlreicher Bücher. "Ich konnte und wollte mich mit diesem System der Unterdrückung nicht abfinden."

Verhöre sind im Gefängnisalltag an der Tagesordnung. Außerdem gibt es kaum Licht und Luft, und die Geräusche werden durch Teppiche gedämpft. "Ich war sehr einsam während der Haft", erinnert sich Rachowski an diese dunkle Phase seines Lebens. "Besuch durfte man nur alle zwei Monate empfangen und es saß immer ein Stasi-Mann daneben, so dass man nicht offen reden konnte." Dass er schon nach sechs Monaten Untersuchungshaft. und weiteren sieben Monaten Gefängnis freikommt, verdankt der 56-Jährige seinem Autorenkollegen Reiner Kunze und "Amnesty International", die sich dafür einsetzen, dass Rachowski in die Bundesrepublik abgeschoben wird. "Ich habe mich hinterher geschämt, dass ich meine Ausweisung in den Westen unterschrieben habe, weil es gegen meine Überzeugungen war", gesteht der Schriftsteller. "Aber ich hätte in der DDR nichts mehr werden können und wollte auch nicht noch länger von meiner Familie getrennt sein."

Im Anschluss an den Vortrag bestand für die Schüler die Möglichkeit, mit Rachowski ins Gespräch zu kommen und ihre Fragen loszuwerden

(Haigerer Kurier, 12.05.2010, Text und Foto: df.)

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