Haiger, 25.01.2014.
Am Donnerstagmorgen konnte man in der Aula der Johann-Textor-Schule (JTS) eine Stecknadel fallen hören, so leise war es. Und das, obwohl mit den Achtklässlern aus der JTS und weiteren Schülern aus der Schule am Budenberg insgesamt 300 Pennäler im Saal saßen.
Der Grund: Steffen Flügler, ehemals exzessiver Drogen-, Medikamenten- und Alkoholkonsument und seit 18 Jahren "trocken", berichtete den Schülern aus seinen Leben. Mit einfachen eindrücklichen Worten schilderte er, wie seine "Drogenkarriere" als Zwölfjähriger begann. "Ich war ein schlechter Schüler, litt unter Minderwertigkeitskomplexen", erzählte Flügler, der in dem Buch "Treppe in die Dunkelheit" seine Lebensgeschichte aufschrieb.
Der Schüler Steffen Flügler leidet unter seinem Schulversagen. Flügler beschrieb in der Aula die Qualen des Zwölfjährigen, der versucht seine Identität zu finden und dabei erste Berührungen mit Alkohol hat, authentisch und eindrucksvoll. "Ich habe geraucht und getrunken, um cooler zu sein und mein mangelndes Selbstbewusst sein zu überspielen." Dabei 300 junge Zuhörer lernten am Beispiel der Lebensgeschichte von Steffen Flügler eine Menge für ihr Leben. Dabei habe ihm das erste Bier null geschmeckt". "Das Gefühl danach war es, das ich daraufhin immer wieder suchte."
Flügler schonte sich nicht in seinem Bericht über den Drogensumpf, in den er hineingeriet.
Er berichtete, wie die Biermenge von einmal wöchentlich auf täglichen Konsum in größeren Rationen steigt und wie die schulischen Leistungen immer schlechter werden. Ehrlich erzählte er, wie er das erste Mal die eigene Mutter bestiehlt und zum Ende seiner Drogenkarriere in ihre Wohnung einbricht und alles mitgehen lässt, was nicht niet- und nagelfest ist. "Dabei hatte ich ein schlechtes Gewissen, aber an Alkohol und Drogen zu gelangen, hatte oberste Priorität."
Mit 13 Jahren trinkt Flügler bereits täglich Alkohol. "Meine Persönlichkeit veränderte sich. Ich prügelte mich und klaute." Die Polizei und auch die Mutter wird auf die Probleme des Jungen aufmerksam. Doch der leugnet - auch wenn ihn Mitschüler oder Lehrer darauf ansprechen.
"Im Alter von 14 Jahren hatte ich erste Kontakte zu Marihuana." Er trinkt in der Schule, kombiniert den Alkohol mit Medikamenten, wird zunehmend auffälliger und aggressiver. Mit 15 habe er täglich drei bis fünf Bier getrunken und Marihuana geraucht. [...]
Zunehmend entwickelt er eine multiple Sucht. Er verliert seinen Arbeitsplatz, kommt zur Bundeswehr. Hier wird er - wegen Geldmangels - das erste Mal zum Drogendealer. Diese Tätigkeit behält er bei, als er aus der Bundeswehr entlassen wird. "Ich konnte schon damals keine Gefühle mehr empfinden. Nüchtern war ich wie ein Stein", blickte Flügler zurück. Ein Sixpack Bier und drei Liter Rotwein - das sei seine Ration morgens vor dem Aufstehen gewesen. Der Drogenkonsum fordert Opfer. "Mit 26 Jahren hatte ich fünf Kumpel verloren, auch mein bester Freund starb." Zwei Jahre später ist Flügler ein körperliches Wrack, hat Todesangst. Notfallmäßig kommt er ins Krankenhaus. Warten auf eine Langzeittherapie kann er nicht.
Die Ärzte wundern sich, dass er überhaupt noch lebt. Was folgt, ist eine schlimme Zeit der Entgiftung. Beim Entzug mit einem Medikament entwickelt Flügler eine weitere Sucht. Der folgende kalte Entzug bringt ihn fast um. Er hört Stimmen, sieht nicht existente Menschen und fällt schließlich ins Koma. Danach kann er sich an nichts mehr erinnern. Es dauert, bis sein Erinnerungsvermögen wieder zurückkehrt und noch viel länger, bis er wieder normal leben kann.
"Es hat ein Jahr gedauert, bis ich einen Raum wie diesen", Flügler wies auf die Abmessungen der Aula hin, "durchqueren konnte, ohne einen Kreislaufkollaps zu bekommen." Der Weg zurück in die Normalität ist nicht einfach. Schlafstörungen und Alpträume quälen ihn jahrelang. Doch er schafft es, findet eine Arbeitsstelle, geht zur Therapie, hält durch. "Damit mein Leben ein bisschen Sinn hat, habe ich meine Geschichte aufgeschrieben", sagt er abschließend.
Eigentlich sollte nach dem Vortrag noch eine Podiumsdiskussion zum Thema stattfinden. Angela Schlösser und Mark Wirth (Paju) und Jörg Schormann und Christina Boodeea (AGGAS, Polizeipräsidium Mittelhessen) waren eigens dafür angereist. Doch die Organisatoren um Sebastian Pulfrich, der als Vorsitzender des "Beirats kommunale Jugendpflege der Stadt Haiger" zur Veranstaltung eingeladen hatte, entschieden während der Veranstaltung, dass der Vortrag Priorität habe. "Das ist die richtige Entscheidung", sagte Pulfrich, "Diese authentische Lebensgeschichte zu hören, war mehr wert." Die Schüler machten anschließend rege von der Möglichkeit Gebrauch, dem Autor Steffen Flügler Fragen zu stellen. Nach seinem Verhältnis zum Vater etwa, der, wie Flügler erklärte, ein "Quartalssäufer" gewesen sei.
Wie einem Alkoholiker zu helfen sei, mochte ein Schüler wissen. "Ein Alkoholiker und ebenso ein Drogenkonsument kann sich nur selbst helfen", betonte Flügler. Allerdings bringe eine aufrichtige Nachfrage zum Nachdenken. Und "Je mehr Leute etwas sagen oder fragen, umso mehr wird diese Person nachdenken."
Ob er Angst vor einer Rückfälligkeit habe, interessierte einen weiteren Schüler. "Ja, die habe ich jetzt noch", bekannte Flügler. Gerade an Silvester, wenn alle Menschen mit Sekt auf das neue Jahr anstießen, mache er sich zum Außenseiter. "Auf Alkohol zu verzichten, ist nichts für Feiglinge. Da gehört Mut zu", erläuterte er.
"Ich wünsche mir", erklärte Flügler, sich abschließend an die junge Zuhörerschaft wendend", dass ihr euch, wenn ihr das nächste Mal in Gesellschaft trinkt, an diesen Morgen erinnert."
Anschließend hatten die Schüler die Möglichkeit, mit den Vertretern von "Paju" und "AGGAS" und auch mit Steffen Flügler ins Gespräch zu kommen. Außerdem hatte die Suchthilfe Wetzlar einen Rauschbrillen-Parcours aufgebaut. Hier konnten die Schüler testen, wie sicher sie mit unterschiedlichen Promillewerten auf den Beinen sind. Wie sich Autofahren unter Alkoholeinfluss verändert, testeten die Schüler am Fahrsimulator.
Der Alkoholpräventionstag wird den Schülern, die ihn erlebten, sicher lange und nachhaltig in Erinnerung bleiben.
(Mit freundlicher Genehmigung des Haigerer Kuriers, Text und Fotos: Ute Jung.)