StartBerichte"Mensch, achte den Menschen" - Zehntklässler auf den Spuren von NS-Verbrechen

"Mensch, achte den Menschen" - Zehntklässler auf den Spuren von NS-Verbrechen

Haiger, 06.03.2024

„Es ist wichtig, hier zu sein und zu verstehen, was hier passiert ist“, mit diesen Worten begrüßte die Workshopleiterin die Schülerinnen und Schüler der Johann-Textor-Schule Haiger in der NS-Gedenkstätte Hadamar. Ziel des dreistündigen Workshops war es, den Leidensweg der Opfer nachzuvollziehen und einen Eindruck von den Gräueltaten während der Zeit des Nationalsozialismus zu bekommen.

Die Glocke In HadamarZu Beginn des Workshops bekamen die Jugendlichen den Auftrag, Zitate zum Umgang mit geistig und körperlich behinderten Menschen sprachlich zu bewerten und auf einem Zeitstrahl einzuordnen. Die Zeitspanne reichte dabei vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Erschreckend war dabei zu sehen, wie geschickt abwertende Äußerungen sprachlich verschleiert wurden und dass dies sogar in unserer heutigen Zeit wieder vermehrt vorkommt.

Der anschließende Rundgang führte die Schülerinnen und Schüler zunächst zu einer Glocke, die an die Opfer der Zwangssterilisation erinnern soll. Hier lernten sie das Schicksal von Anna Voss kennen. Sie lebte 15 Jahre in einem Kinderheim, bevor sie in ihre Familie zurückkehrte, wo es jedoch häufig zu Konflikten kam. Später kam sie nach Hadamar, wo ihr ein „angeborener Schwachsinn“ diagnostiziert wurde. Da sie unverheiratet schwanger geworden war, wurde sie zwangssterilisiert. Ihr gelang die Flucht aus Hadamar und sie wurde auch nicht zurückgeholt. Später heiratete sie und starb 1954 in Frankfurt am Main. Zum Gedenken an sie und die vielen anderen Schicksale läuteten einige Schülerinnen die Glocke. „Dies ist ein Zeichen für das Mitgefühl für die Opfer“, antwortete ein Schüler aus der 10R1 auf die Frage, welcher Symbolwert dahintersteckt.

Nächste Station des Rundgangs war die sogenannte „Busgarage“. In dem teils noch aus Originalteilen rekonstruierten Holzgebäude parkten die Busse, die die Opfer aus umliegenden Anstalten zur Ermordung nach Hadamar brachten. Wen dieses Schicksal traf, entschieden drei Gutachter in einem speziellen Gericht in Frankfurt, anhand eines Meldebogens, ohne den betreffenden Menschen jemals zuvor gesehen zu haben. Die Zehntklässler bekamen solch einen Meldebogen und sollten überlegen, was mit der betroffenen Person wohl geschehen war.

03-08 HadamarIhr weiterer Weg führte sie dann durch den sogenannten „Bettensaal“, wo den Opfern eine Aufnahme in die Anstalt vorgetäuscht wurde, hinunter in den Keller, wo sich die Gaskammer und das Krematorium befanden und wo im Rahmen der Mordaktion „T4“ innerhalb von acht Monaten mehr als 10.000 Menschen getötet wurden. Die Betroffenheit über diese Gräuel stand vielen Schülerinnen und Schülern ins Gesicht geschrieben. „Es ist wirklich ein gruseliger Ort“, fasste eine Schülerin ihre Eindrücke zusammen.

Im Gedenkbuch für die in Hadamar ermordeten Menschen suchten die Textorianer den Namen des Haigerers Otto Kilian, mit dessen Schicksal sie sich zuvor im Unterricht auseinandergesetzt hatten. Er hatte das „Down-Syndrom“ und wurde deswegen im Alter von 15 Jahren in Hadamar getötet. Susanne Menges vom Haigerer Stadtarchiv, die die Exkursion begleitete, erinnerte zudem noch an das Schicksal von Wilhelm Fey aus Flammersbach. Hier erfuhren die Jugendlichen von der zweiten Phase der Mordaktionen, der sog. „wilden Euthanasie“.

03-08 HadamarNachdem aufgrund öffentlicher Proteste das Vergasen im August 1941 eingestellt wurde, ging das Töten durch Verhungern und Überdosen von Medikamenten im Verborgenen weiter. In den Kondolenzbriefen der Anstalt wurden falsche Todesursachen wie Hirnhautentzündungen und ein Magen-Darm-Katarrh angegeben.

Zum Abschluss besuchten die Workshop-Teilnehmerinnen und –Teilnehmer noch den ehemaligen Anstaltsfriedhof, auf dem 4500 Todesopfer aus der zweiten Mordphase in Massengräbern bestattet wurden. Hier steht auf einer Stele „Mensch, achte den Menschen“, was an diesem Ort ein besonderes Gewicht bekommt. Nach einem Schweigemarsch stand die Frage im Raum, was jeder Einzelne tun kann, damit sich so etwas nicht wiederholt. Hierzu sollte man nur ein Stichwort nennen. „Menschlichkeit“, „Erinnern“ und „Menschenrechte“ kamen hier am Häufigsten vor.

„Ein sehr spannender Besuch, es ist wirklich erschreckend, was hier passiert ist“, fasste Samira, 10R1, ihre Eindrücke nach dem Besuch zusammen. „Das war Geschichtsunterricht mal anders. Wir wussten zwar, was hier passiert ist, aber es vor Ort zu erleben, ist nochmal etwas ganz Anderes“, ergänzte ihre Mitschülerin Zümra, 10R1.

 

 

 

Aufruf des Stadtarchivs

Manchmal ist in Familien noch das Wissen über Angehörige bekannt, die „weggekommen“ sind. Wer kann und möchte hierzu dem Stadtarchiv Haiger (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!) Auskunft geben? Wer hat zu ihrem Schicksal weitere Informationen, vielleicht sogar Fotos?

Folgende Euthanasie-Opfer aus Haiger sind bekannt:

  • Wilhelm Bedenbender *2.2.1885 Fellerdilln, +20.8.1936 Landesheilanstalt Weilmünster
  • Herta Müll, *18.9.1909 Allendorf, + 13.2.1941 Landesheilanstalt Hadamar
  • Wilhelm Nau, *27.8.1878, +6.4.1941 Landesheilanstalt Hadamar (er lebte in Sechshelden)
  • Karl Nikodemus, *19.9.1929, +18.12.1941 Heilerziehungsanstalt Idstein (er lebte in Haiger)
  • Ferdinand Schmidt, *23.7.1858 Langenaubach, +17.3.1940 Landesheilanstalt Eichberg (er lebte in Wiesbaden)
  • Robert Seibel, *21.12.1889 Haiger, +12.8.1941 Landesheilanstalt Hadamar (er lebte in Langenaubach)
  • Frieda Weber *10.2.1904 Fellerdilln, +7.4.1943 Landesheilanstalt Weilmünster
  • Hedwig Weber *23.11.1914 Langenaubach, +9.4.1938 Landesheilanstalt Marburg
info-grundschuleltern

Suche


Zum Anfang